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Die erbarmungslose Freiheit

20. Januar 2013


Bettina Schuller: Führerkinder


Bettina Schuller: Transsylvanien - Spielplatz der Gedanken

„Führerkinder" – die Kronstädter Erinnerungen von Bettina Schuller

Erinnerungen. Nach der politischen Wende von 1989 haben eine Vielzahl Deutsche aus Rumänien in Deutschland oder Rumänien Memoirenbücher veröffentlicht. In fast allen werden die Leidensjahre während der kommunistischen Zeit dargestellt. Um Erinnerungen handelt es sich auch in dem kürzlich im Schiller Verlag erschienenen Buch „Führerkinder" von Bettina Schuller. Die Erinnerungen werden fortgesetzt in der Kurzerzählung „Die Beutelkultur" und über das Erinnern sinniert die Schriftstellerin in den Aphorismen, die sie unter dem Titel „Das Gedächtnis" zusammenfasst und die das 143 Seiten Buch abrunden. Illustriert ist es mit Zeichnungen von Helmut von Arz.

„Führerkinder. Eine Jugend in Siebenbürgen." Titel und Untertitel deuten darauf hin, dass es sich um Erinnerungen aus der Zeit des „Führers" handelt. Die 1929 in Kronstadt/Braşov geborene und seit 1976 in der Bundesrepublik Deutschland lebende Schriftstellerin kramt tatsächlich aus ihrem Gedächtnis Beobachtungen und Ereignisse aus ihren Kindheits- und Backfischjahren hervor. Sie bricht ein Tabu: Über die Nazi-Jahre in Siebenbürgen wird nicht geschrieben. Die Begebenheiten werden aus der Sicht des frühreifen, intelligenten Mädchens dargestellt und mit der Lebensweisheit der über 80-Jährigen kommentiert. Daraus ergeben sich großartig zutreffende Formulierungen, die dank des feinen Humors oftmals zum Schmunzeln verleiten.

Als Leser wird man in die Hochburg der Deutschen Volksgruppe, das Kronstadt zwischen 1936 und 1945, mitgenommen. Die Autorin erzählt mit staunenden Kinderaugen von all den Wundern, die aus Deutschland kamen: Das Album von der Olympiade 1936 hat es dem siebenjährigen Kind angetan, genauso wie die schönen Geschenke, aber auch die Ampeln.

Das Kind versteht deren Funktionieren nicht, glaubt aber an die Ampeln. „... es war das ewige Bedürfnis zu glauben", schreibt die erfahrene Frau. „Etwas nicht zu begreifen macht gläubig, gibt Geborgenheit." (S. 11) Und sie fragt sich, ob sie aus diesem Bedürfnis heraus auch an den „größten Führer aller Zeiten" („Gröfaz" persifliert), Adolf Hitler, genauso fest geglaubt hat? Und an die Wunderwaffe („Wuwa") – selbst als die Sowjets an den Karpaten standen?

Mit der Ampel und deren hirnlosem Funktionieren assoziiert die Autorin den Gehorsam der Generäle und den Gehorsam auch der noch halben Kinder, die nun gedrillt wurden und stolz im Gleichschritt marschierten, gleichgültig wohin. „Führer, befiel, wir folgen dir" lautete die Parole. „Eine sorglose Freiheit muss es gewesen sein – und eine erbarmungslose", meint Schuller heute (S. 15). Das falsche Freiheitsgefühl verblendete: „Niemand griff ein, als die Wehrmacht vor Stalingrad war, obwohl die Ampel schon längst auf Rot stand." (S. 45)

Mit erbarmungsloser Offenheit erzählt die Autorin, wie der „Heil Hitler"-Gruß Einzug hielt und auch ihr Vater, „wie so viele Sachsen", eine Hakenkreuzfahne bestellte. Aus deren umgefärbtem Stoff erhielt sie nach dem 23. August 1944, als Stoffe rar und das Geld knapp waren, ein Sommerkleid genäht. Als am 1. September 1939 ertönt, Polen habe Deutschland angegriffen und „seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen", zweifeln die meisten nicht an diesem „Unschuldsbeweis".

Die Worte und seine Stimme prägten sich im Gedächtnis des Kindes ein. „Dass viele, allzu viele, schon in wenigen Jahren zu Krüppeln oder zu Henkern werden sollten, ahnten damals nur wenige", schreibt Schuller (S. 32). „Berauscht" stehen die jungen Mädchen, Mütter und Lehrer am Bahnhof und nehmen Abschied von den stolzen Jungen, die „für Deutschland kämpfen und sterben durften". Stolz waren nicht bloß die Jungen in den graugrünen Uniformen der Waffen-SS gewesen, „stolz" müssen auch die Mütter um sie trauern, in den bald darauf erscheinenden Todesanzeigen in der „Kronstädter Zeitung". Bettinas Mutter steht am Bahnhof hinter ihr und sagt: „Dies ist das Ende der Siebenbürger Sachsen". Die Mutter äußert – anders als der Vater – immer wieder Bedenken und Zweifel.

Bettina Schuller erinnert sich an das Buch „Sünde wider das Blut", das im Winter-Ferienlager zirkulierte. „Wir merkten nicht, wie wir indoktriniert wurden, wie unser Urteil, unsere Wahrnehmung, die Wirklichkeit nicht wahrnahm. Wir gehörten zur besten und schönsten Rasse ..." stellt die Autorin rückblickend fest (S. 60).

Sie berichtet über die „Reise ohne Wiederkehr" einer jungen Mutter mit ihrer behinderten Tochter nach Berlin, wo das „unwerte" Leben „auf humane Weise" endete, und dass eines Tages die jüdische Klassenkollegin nicht mehr zur Schule kommt. Sie schildert die Untersuchung auf „rassische Reinheit", bei der festgestellt wird, sie sei „ganz nordisch". „Für Verstand oder besondere Begabung hatten die Herren sich nicht interessiert", kommentiert sie.

Erst als Altenheim-Bewohnerin erfährt Bettina Schuller von einer Mitbewohnerin, dass diese das Ergebnis der „Rassenprüfung" schriftlich erhalten hatte und das Dokument den Vermerk „ZZZ" trug: Zur Zucht zugelassen (S. 77-78).

Begeistert sehen die jungen Leute der Wachablösung im Paradeschritt zu und wurden ihrer nicht überdrüssig. Wie des Weihnachtsbaums, den man bis zum 6. Januar unermüdlich erleuchten ließ – auf den „besonders rassenreine Familien" allerdings verzichtet hatten. Deutschland war im Sprachgebrauch „das Reich" und bald das „tausendjährige" Reich geworden, als die Front immer näher kam, begann man statt „Sieg" „Endsieg" zu sagen.

Gewartet wurde auf die „Wuwa": „Unsere Gehirne waren vergiftet. Unsere Begeisterung, die wir zuerst als Frohgefühl empfunden hatten, führte ins Verbrechen. Der Glaube an Hitler-Deutschland starb nur langsam über das bittere Ende hinweg" (S. 110). Die Autorin gibt zu, dass ihr die Tränen die Wangen runterkullerten, als sie am 9. Mai 1945 die Nachricht über Deutschlands Kapitulation hörte. Ihre Familie blieb in Kronstadt, doch fuhren viele sächsische Familien mit den bei ihnen einquartierten deutschen Offizieren bei deren Abzug am 26. August 1944 fort „in Bomben und Hunger hinein".

„Was macht die Erinnerung aus meinem Leben?" fragt sich die Schriftstellerin. Das Gedächtnis wurde auch von Erfahrungen nach dem Krieg gespeist, als die „gutmütigen Rumänen" keine Racheakte verübten, und später vom Wissen, vermittelt von Dokumentarstreifen, die sie in Deutschland sah. Sie stellt fest: „Nicht Türken und Tataren, nein, unsere eigene Begeisterung für Hitlerdeutschland hat unserer 800-jährigen friedlichen Heimat ein Ende gesetzt" (S. 34).

Hannelore Baier, aus der ADZ vom Sonntag, 20. Januar 2013

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