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Was tun im letzten Lebensabschnitt?

6. April 2011

Diskussion im Erasmus-Café und beim Männerfrühstück mit Henning Scherf

Am Wochenende fanden in Hermannstadt zwei Treffen mit Henning Scherf, dem ehemaligen Bremer Bürgermeister (1995-2005) statt. In der Erasmus-Buchhandlung stellte er am Freitag sich und seine Bücher („Grau ist bunt", „Gemeinsam statt einsam", „Das Alter kommt auf meine Weise") vor. In der Evangelischen Akademie in Neppendorf (EAS) sprach er am Samstag beim „Männerfrühstück" zum Thema „Mut machen und Mut haben in diesen Zeiten".
In beiden Veranstaltungen erwies sich der 72-jährige Scherf als überaus vitaler, mitreißender
und überzeugend optimistischer Redner und Diskussionspartner
Hennig Scherf bereist mit seiner Ehefrau zum ersten Mal Siebenbürgen und weilt z. Zt. auf Einladung seines Freundes, des Kronstädters Peter Dehmel, in Michelsberg. Sie hatten sich vor Jahren bei der Kulturarbeit in Nicaragua kennen gelernt.
Bei seinem Auftritt im Erasmus-Café ging es hauptsächlich um Erfahrungen im Ruhestand, der für ihn ein „Unruhestand" ist. Im Alter von 67 Jahren gab er seine parteipolitischen Ämter auf und widmet seitdem Zeit und Kraft seinen zahlreichen Ehrenämtern, z. B. ist er Präsident des „Deutschen Chorverbandes" (DCV). Sein Hauptanliegen ist, herauszufinden welche Rolle alternde Menschen in einer immer älter werdenden Gesellschaft spielen sollten. Im Gegensatz jedoch zu den vielen pessimistischen Prognosen zum demographischen Wandel (z. B. zur Vergreisung der Gesellschaft, die der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in dem Bestseller „Das Methusalem-Komplott", 2004 voraussagt), sieht Scherf das Alter als Chance. Die heutigen alten Menschen würden – dank der Medizin, besserer Lebensbedingungen und der langen Friedenszeiten - im Durchschnitt etwa 30 Jahre älter als ihre Großeltern, eine Verlängerung des Lebens, die als „geschenkte Jahre" anzusehen seien. Diese Zeit müsse aber sinnvoll genutzt werden, u. z. durch vermehrte und verbesserte berufliche Angebote für Ältere und die Beteiligung an Ehrenämtern (etwa die Hälfte aller 60-70-Jährigen sei in Deutschland auf diese Weise als tragende Gruppe der Zivilgesellschaft aktiv). Als Beispiele nannte Scherf die Tätigkeiten in Sportvereinen, Chören oder als „Lesebotschafter" (Senioren, die in Grundschulen mit z. T. hohem Ausländeranteil vorlesen, um den Schülern das Deutsche näher zu bringen).
Ein besonderes Anliegen sind ihm die zukünftigen Wohnformen alter Menschen (die „Grauen"). Scherf, der mit seiner Frau Luise seit 23 Jahren mit sechs bis acht älteren Freunden in einer Hausgemeinschaft lebt, propagiert – auch in seinen Büchern – diese „bunte" alternative Lebensform. Er sieht sie als Gegenmodell zur Vereinsamung des Einzelnen oder zum Dahinsiechen in Altersheimen. Eine solche Gemeinschaft habe viele Vorteile: gegenseitige geistige Anregungen, Teilung der Aufgaben, aber auch gegenseitige Versorgung oder Pflege in Krankheits- oder Demenzfällen. – Hierbei wurde in der Diskussion auf die frühere positive Rolle der Nachbarschaften in Siebenbürgen hingewiesen. Scherf war vom Erlebnis einer Beerdigung in Michelsberg beeindruckt, die er als Gegenbild zum „anonymen" Sterben im Pflegeheim empfand. Dabei kamen auch die Gefahren der Auflösung von Spitälern im Kreis Hermannstadt zur Sprache, die aus Kostengründen zu Altenwohnheimen „umgestaltet" werden sollen.
Das „Männerfrühstück" zum Thema „Mut in dieser Zeit" stellte die erwähnten Fragen einer alternden Gesellschaft in den aktuellen politisch-ökonomischen Zusammenhang. Angesichts der um sich greifenden weltweiten Probleme in Bezug auf technische Katastrophen und Energiekrisen (AKW Fukushima), ökonomische Krisen (Banken- und Eurokrise) und politische Diktaturen (Libyen) warnte Scherf vor genereller Mutlosigkeit.
Es genüge nicht, sich der (Atom- oder Chemie-)Technik zu verweigern, man müsse sie beherrschen und mit den Forschern zusammen arbeiten. Hier zitierte er den deutsch-jüdischen Philosophen Hans Jonas (1903-1993), der in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation" (1979) einen kritischen Umgang mit Gefahren anmahnte, der aber nicht mit Kraftmeierei und Machtgehabe einhergehen dürfe. Angesichts des heute verbreiteten Fatalismus – so Scherf - dürfe nicht auf Dogmen und Ideologien vertraut werden, sondern die Verantwortung jeder Person sei gefragt. Dazu müssten Strukturen geschaffen werden, die es jedem Einzelnen ermöglichen, seinen Beitrag zu leisten.
„Wie ist Orientierung möglich in einer säkularisierten Welt?" fragte Scherf. In seiner Antwort zitierte er aus einem Gespräch mit dem Hermannstädter Architekten Fabini, der eine Werteorientierung an den weltweit anerkannten Menschenrechten fordert. Deren Universalität eröffne gerade für Diaspora-Gemeinden neue Perspektiven. Erste Erfolge zeichneten sich auch in Rumänien z.B. bei der Korruptionsbekämpfung ab. Man dürfe sich nicht von der Verdummung durch einige Medien beeinflussen lassen, auch nicht als alternder Mensch. Gerade Ältere haben Lebenserfahrungen vorzuweisen, die sie Jüngeren vermitteln können. -
In der anschließenden Diskussion ging es u. a. um das friedliche Zusammenleben mit anderen Nationalitäten in der 850-jährigen siebenbürgisch-sächsischen Geschichte. Durchaus kontrovers wurden Begriffe wie Abschottung und Toleranz erörtert. Scherfs Credo ist, dass politische Polariserungen in einer globalisierten Welt ausgedient hätten. Heutzutage müsse man sich immer auch in den anderen – auch in den politischen Gegner - hineindenken, um Konflikte nicht kriegerisch, sondern zivilgesellschaftlich und friedlich zu lösen.
Wenn bei den beiden Veranstaltungen mitunter der Eindruck entstand, Scherf vertrete einen blauäugigen Optimismus, so beeindruckten seine unerschütterliche Hoffnung und sein Aufbegehren gegen jegliche Resignation. Auch persönlich überzeugte Scherf durch menschliche Nähe, Freundlichkeit, Vitalität und Charisma.
Einen weiteren Auftritt hatte das Ehepaar Scherf beim „Mai-Singen" am frühen Sonntagmorgen auf der Michelsberger Burg - insgesamt drei gelungene Veranstaltungen, für die allen Organisatoren zu danken ist!

Konrad Wellmann

(veröffentlicht in der HZ = Hermannstädter Zeitung vom 6.4.2011, Photo: Konrad Klein)

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