Karin Gündischs Jugendroman „Weit, hinter den Wäldern" neu aufgelegt
10. Juli 2010
Es gibt Bücher, die lange im Gedächtnis bleiben. Bilder flackern auf, einzelne Wörter und Wortgruppen setzen sich fest und lassen wieder und wieder nachdenken. Zu diesen Büchern gehört zweifelsfrei das Jugendbuch „Weit, hinter den Wäldern" der siebenbürgischen Autorin Karin Gündisch. Schon 1988 wurde der Roman bei Beltz & Gelberg veröffentlicht, war viele Jahre vergriffen und wurde nun in einer gestalterisch wunderschönen Neubearbeitung im Schiller-Verlag Hermannstadt/Bonn neu aufgelegt.
Held des Romans ist der zwälfjährige Peter, der zusammen mit zwei Geschwistern bei seinen Großeltern lebt. Die Handlung setzt im Frühling 1949 ein und erstreckt sich bis zum Beginn des Jahres 1950. Vier Jahre sind seit dem Krieg vergangen, seit Kindern ihre Eltern genommen wurden, um so genannte „Aufbauarbeiten" für die Verbrechen des Dritten Reiches an Russland zu leisten. Peter ist eines dieser Kinder, das seine Eltern nur noch wage zu kennen glaubt, denn langsam überlagern sich seine tatsächlichen Erinnerungen mit bloßen Abbildungen in Form von Photographien. Peters Mutter starb an Krebs, sein Vater ist in einem russischen Lager. Die Lager, von denen kaum jemand in Peters Dorf eine konkrete Vorstellung hat, sind der zentrale Punkt, um den die Figuren kreisen. Karin Gündisch nimmt sich in "Weit, hinter den Wäldern" kritisch-sachlich und dennoch kindgerecht dieses Kollektivtraumas der rumäniendeutschen Bevölkerung an. Schonungslos beleuchtet sie die Hintergründe der Deportationen, wirft Fragen nach Schuld und Schicksal auf, nach Moral und eigenen Verfehlungen. Wie auch schon in anderen Büchern bedient sich Gündisch kurzer Erzählungen, um nach und nach ein mosaikartiges Bild des Geschehens darzustellen. Eingebettet in die Erlebnisse des jungen Helden Peter, gelingt es Gündisch ihre erwachsenen Figuren ausführlich erzählen zu lassen, auch dann, wenn sie lieber schweigen. ... Über dem mehr oder weniger normalisierten Leben, über Alltag und Freude innerhalb der sächsischen Gemeinschaft lastet das Schweigen wie ein Fluch. Peter aber möchte erfahren, er möchte die Welt, die ihn umgibt, verstehen und ahnt, dass er nur so eine eigene Identität entwickeln kann. Deshalb fragt Peter. Anfangs befragt er die Großeltern, später auch Verwandte und Bekannte. Er nimmt Geschichten gierig auf und versucht das Erzählen von diesen zu forcieren. Ihm wird, zum Teil hinter vorgehaltener Hand, fast immer Auskunft gegeben. Nur ein Thema stößt an die Grenzen der möglichen Kommunikation: „Über die Zwangsarbeit durfte man nichts erzählen, man musste froh sein, dass man wieder zu Hause war und dass man überhaupt noch am Leben war ...", heißt es, als Peter etwas über die Lebensumstände im Lager erfahren will. So muss er Gespräche belauschen und auf den Zufall hoffen. Im Verlauf des Romans erfährt Peter viel über die Geschichte seiner Volksgruppe, deren Schuld am Holocaust gegen die jüdische Bevölkerung Rumäniens und ihre Verwicklungen ins Dritte Reich. Er muss ein eigenes moralisches Empfinden entwickeln und erfahren, dass man Erwachsenen nicht bedingungslos glauben kann. Über all diesen wichtigen Entwicklungsschritten schwebt immer die Abwesenheit des Vaters, von dem sich Peter Stärke und Kraft verspricht. Als der Vater endlich wieder erscheint, ist es ein anderes Wiedersehen, als Peter es sich erhofft hatte. Der Vater kehrt schweigend zurück, „er wollte nichts erzählen." Wieder ist es da, das Schweigen, und mit ihm die Traurigkeit und die Einsamkeit der Rückkehrer, die ihr eigenes Leben erst wieder finden müssen, auch wenn ihnen der Platz in der Gemeinschaft frei gehalten wurde.
Obwohl schon vor über 20 Jahren geschrieben, ist dieses Jugendbuch aktueller denn je. Karin Gündsch beschreibt hier, was von Herta Müller in der "Atemschaukel" intensiviert wurde. Gündischs Roman kommt dabei zu Gute, dass er sich an Jugendliche richtet. Sie ist deshalb gezwungen, sich einer klaren und eindeutigen Sprache zu bedienen und die Dinge beim Namen zu nennen. Gleichzeitig bezieht sie eindeutig Stellung, Stellung zum Dritten Reich und zum Holocaust, zu Nationalsozialisten in den eigenen Reihen und zu Landsleuten, die eine ganze Volksgruppe ins Elend gerissen haben. Gündischs Schreibweise ist nahezu frei von Metaphern und Verschlüsselungen. Nur bei Begebenheiten, die zu schwer für den kindlichen bzw. jugendlichen Erfahrungshorizont wären, bedient sie sich Umschreibungen.
Gündisch versteckt sich nicht hinter Andeutungen, sondern lässt ihre Romanfigur Peter Fragen stellen, auch wenn diese unangenehm sind – und sie beantwortet die Fragen auch. In fast jedem Satz wird deutlich, dass sich die Traumata des Krieges und der Deportation in die nächsten Generationen vererben werden, und der drohende Exodus schwebt schon jetzt wie ein Schatten über den handelnden Figuren.
Dass es Gündisch gelingt, ihr jugendliches Lesepublikum mit dieser Thematik nicht zu überfordern, ist dem Geschick der Autorin zuzurechnen, immer wieder zu einer kindlich-fröhlichen Stimmung zurückzukehren. Sie beschreibt Ausflüge und nicht enden wollende Sommernachmittage mit Spielen und Freunden und lässt dadurch Hoffnung zu, denn in jedem Bösen wohnt bei Karin Gündisch auch etwas Gutes. So wird derjenige bestraft, der einen Juden ruiniert hat, wird der geläutert, der angeberisch durch die Welt läuft. Nur an einer Stelle versagt dieses Prinzip von Karin Gündisch. Der Vater von Peters Freund Willi, ein absolut überzeugter Nationalsozialist, setzt sich nach dem Krieg in die amerikanische Besatzungszone ab, wo er erneut in einem politischen System Karriere machen will. Diesen Vater erklärt die Mutter Willis für tot, er wird nicht mehr in die Gemeinschaft zurückfinden.
Gündisch schreibt für ein Lesepublikum, dem Leben und Sein in Siebenbürgen fremd sind, eine fremde Welt „weit, hinter den Wäldern". Es gelingt der Autorin aber, dieses „Transilvania", auf das sie im Titel verweist, aufzubereiten und durch Kontextualisierungen und Fußnoten unverständliche Wörter und Geschehnisse zu erschließen. Einen großen Anteil an der gelungenen Übertragung des Buches in das 21. Jahrhundert hatte der Schiller-Verlag in Hermannstadt. So wurde der Text unter der Ägide von Anselm Roth behutsam an die neue Rechtschreibung angepasst und um einige Fußnoten ergänzt. Ein weitaus größeres Verdienst sind aber die Schwarzweißphotographien, die den Text der Neuausgabe illustrieren. So bietet Archivmaterial Einblick in Orte, die für die nachgeborene Generation sehr abstrakt sind. Auffallend schön sind die von Anselm Roth aufgenommenen Photographien der Landschaften in Siebenbürgen, die auch Karin Gündisch beschreibt. Hinzu kommen Aufnahmen von Bauern, die Kühe melken, und Wäsche, die im Wind flattert. Und immer wieder sind es Kinder, die auf den Photographien eingefangen wurden. Dass die Kinder, die die Figuren des Buches darstellen sollen, auf Grund ihrer Kleidung eher in die heutige als in die damalige Zeit passen, stört nicht, sondern hat eine Brückenfunktion.
Was man sich in dieser Neuausgabe gewünscht hätte, wäre ein angepasstes Vorwort gewesen. Ein Vorwort, das die Ereignisse in Siebenbürgen und Rumänien seit 1988 aufnimmt und kommentiert. Mit Ausnahme dieses Punktes handelt es sich um ein großartiges Buch. Ein Roman, in dem Kinder ernst genommen werden, der ermutigt Fragen zu stellen und der die Hoffnung vermittelt, dass auch schwierige Lebenszeiten und Umstände durchaus schön sein können.
Nach der Lektüre verspürt man allerdings einen dringenden Wunsch: Den Wunsch, dass die Autorin uns bald ein neues Buch präsentieren wird. Ein Buch über den Kommunismus und seine Folgen zwanzig Jahre später. Ein Roman über den Exodus und die nachkommende Generation, deren siebenbürgische Wurzeln gekappt sind, die aber dennoch mit dem Mythos Siebenbürgen lebt und aufwächst.
Michaela Nowotnick
aus der Siebenbürgischen Zeitung, Online-Ausgabe, vom 10. Juli 2010