„Eine Welt im Aufbruch" ist eine detailverliebte Studie zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen im frühen Spätmittelalter
1. Januar 2008
Ein Buch für Besserwisser / Von Jakob Horstmann
Mit dem im Schiller-Verlag erschienenen „Eine Welt im Aufbruch – Die Siebenbürger Sachsen im Spätmittelalter" legte Wilhelm Andreas Baumgärtner im Jahre 2008 bereits sein zweites Buch zu der Geschichte der Siedler Siebenbürgens in kurzer Zeit vor. Erst Ende 2007 kam „Der vergessene Weg" in die Büchereien, in dem Baumgärtner die umstrittene These verteidigt, die deutschen Siedler von Rhein und Mosel hätten sich als Teil des ersten Bauernkreuzzugs gerade auf dem Weg ins Heilige Land befunden, als sie der Ruf König Geisas II erreichte, im heutigen Siebenbürgen zu siedeln.
Diesmal bewegt sich der gebürtige Hermannstädter Baumgärtner auf weniger konfliktträchtigem Terrain. Seine Grundfrage lautet: Wieso waren es unter allen Siedlergruppen gerade die Sachsen, die sich in Siebenbürgen durchsetzten konnten und bis heute Bestand haben? Zu beantworten sucht er diese Frage in drei Teilen. Zunächst, in der ersten Hälfte des Buches, mit einem diagnostischen Blick auf die Lebensweise und Verwaltungsstruktur der Siedlerschaft. Sodann mit einer ausführlichen Erläuterung zweier prägender Ereignisse der Zeit: Zum einen des sogenannten goldenen Freibriefs, ausgestellt von Andreas II im Jahr 1224, in dem den deutschen Siedlern von Broos bis Draas Sonderrechte zugestanden wurden, die dazu beitrugen, die bis dahin disparaten Siedlergruppen zusammenzuschweißen. Zum anderen dem Einfall der Mongolen von 1240/41. An den Daten kann man schon erkennen, dass im Untertitel wohl nur aus ästhetischen Gründen auf das kleine Wörtchen „früh" vor Spätmittelalter" verzichtet wurde. Die Schilderung endet mit dem Jahr 1317.
Im ersten der drei Teile gibt Baumgärtner also eine detailreiche Beschreibung der Lebensumstände der Siedler, in der er oft eine gewisse Ehrfurcht vor ihrer Leistung angesichts der furchtbar widrigen Gegebenheiten nicht verbergen kann. Weder ihre Kleidung und Essgewohnheiten, noch die genaue Position der Heizöfen im Stubenraum lässt er dabei aus. Außerdem gibt es hier eine breit angelegte Verwaltungsgeschichte des Sachsenlandes für Leute, die es schon immer ganz genau wissen wollten. Zwar führt Baumgärtners Begeisterung für administrative Strukturen zu Absätzen wie: „Die Basis[der Flächenverwaltung, d.Verf.] war die Burggespannschaft. Deren Grenzen waren auch die Komitatsgrenzen, der Burgbesitzer (der König) bildete die Burggespannschaft. Ein Komitat konnte ohne Burggespannschaft nicht existieren, aber umgekehrt schon. Nur der Burggespan verfügte über ein Offizierskorps (Gespan, Hofgespan, Kastellan, Befehlshaber der Mannschaft), das auch für das Komitat zuständig war." Aber auch wenn sich diese Passagen manchmal etwas ziehen, so stecken Baumgärtners Beschreibungen doch voller wissenswerter Details. Oder wussten Sie zum Beispiel, dass der heute so urstämmig scheinende Mais erst im 17. Jahrhundert aus der Türkei importiert wurde?
Die zweite Hälfte des Buches dann hat zwei große Themen. Erst befasst sich Baumgärtner ausführlich mit der Bedeutung des Goldenen Freibriefs. Im mit Abstand längsten Kapitel geht er auf eine stellenweise faszinierende Spurensuche rund um das „Andreanum", nach den wahren Gründen für seinen Erlass, der Identität der Antragsteller und der Tragweite seiner Konsequenzen. Hier jongliert er schwungvoll mit einer Vielzahl von historischen Quellen, die sich zu einem umfassenden Bild dessen zusammenfügen, was er „das geistige Rückgrat der sächsischen Nation" nennt.
Im Anschluss geht Baumgärtner dann zur Diskussion des Mongoleneinfalls von 1240/1241 über. Die lange Schilderung von Vorgeschichte, Ablauf und Folgen desselben hat zwar nur noch stellenweise etwas mit Siebenbürgen zu tun, sondern dreht sich mehr um die Geschichte des ungarischen Königs Geisa IV. Dafür liest sie sich aber für den Interessierten fast so spannend wie ein Winnetou-Roman, und das trotz Baumgärtners weiterhin genauso ausschweifender wie knochentrockener historischer Quellenanalyse.
Auffällig ist Baumgärtners Tendenz, immer wieder auf die Unsicherheit der Faktenlage hinzuweisen. Durch das ganze Buch ziehen sich die Hinweise, dass man zu dieser oder jener Frage „nur Mutmaßungen" anstellen könne oder „die Quellen keine Antwort" gäben. Das ist zwar löblich, aber auch selbstverständlich, immerhin handelt es sich um Ereignisse des Mittelalters, wo die Quellenlage eben notorisch dünn ist. Manchmal hätte das Buch ein bisschen mehr Entscheidungsfreude vertragen. Fast schon komisch wirkt Baumgärtners Unentschlossenheit, als er selbst zu der nun doch weitgehend unstrittigen Frage, ob oder nicht die Mongolen auf ihrem Feldzug durch Siebenbürgen gezogen seien, bemerkt, sie sei schon mal „unterschiedlich beantwortet worden".
Etwas lustig ist außerdem, dass auf dem (übrigens sehr schönen) Buchdeckel „eine Welt im Aufbruch" beschworen wird, während insbesondere in der zweiten Buchhälfte nur von einem brutalen Rückschritt nach dem nächsten die Rede ist. Und als wären die raue Gangart von Mutter Natur, Mongolenhorden und menschenfressende Wölfen nicht genug, wird schon dräuend auf die nächste Katastrophe, die Türkenkriege, hingedeutet. Aber das stört natürlich bei der Lektüre dieses hochinformativen und sorgfältigen Buches nicht weiter. Wer sich an der Überfülle an Details und dem nicht immer packenden Stil nicht stört, für den ist Baumgärtners Buch eine Schatzkiste siebenbürgisch-sächsischer Geschichte.