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Eginald Schlattner im Schiller Verlag

18. Juli 2016

Eginald Schlattner: Mein Nachbar, der König. Verlassene Geschichten. Hg. von Michaela Nowotnick. Hermannstadt-Bonn: Schiller Verlag 2012. 209 S.

Eginald Schlattner: Odem. Kritische Edition. Hg. von Michaela Nowotnick. Hermannstadt-Bonn: Schiller Verlag 2012. 135 S. €

Wer die drei großen Romane Eginald Schlattners über die ferne untergehende Welt der Siebenbürger Sachsen, der ältesten deutschen Minderheit in Rumänien, gelesen und sich von ihnen hat faszinieren lassen, den wird die Veröffentlichung dieser frühen Erzählungen freuen. Aus drei Gründen: weil Schlattner ein großartiger Erzähler ist, weil der Blick auf Siebenbürgen hier noch ein anderer ist als in den Romanen, deren Perspektive die der Zeit nach der Selbstauflösung der Minderheit ist, und vor allem weil man immer schon wissen wollte, was vor 1998, vor dem Geköpften Hahn, geschah – denn dass der Autor eines so komplexen und so gelungenen Romans schon Erfahrungen mit dem Schreiben gehabt haben musste, war offensichtlich.
Die von Michaela Nowotnick aus Schlattners Vorlass an den Tag geförderten Erzählungen stammen zum Teil aus den 50er Jahren, in denen sich der Student Schlattner anschickte in den keineswegs kleinen Kreis der damaligen rumäniendeutschen Autoren zu treten – was an seiner Verhaftung (Ende 1957) scheitern sollte; weitere sind 1960 und 1965 nach der Entlassung aus der Haft entstanden. Allein „Mein Nachbar der König" (1992) steht zeitlich schon im Umfeld der Romane, die gelungenste Erzählung in den beiden schmalen Bänden – das traurige Bild einer vereinsamten alten Frau, umgeben von leicht grotesk gezeichneten Figuren in einer österreichischen Kuranstalt, mit starken Bezügen zu Rumänien, vor allem mit einem ausgeprägt satirischen Blick auf das westliche Bild von diesem Land.
Erschienen sind bisher nur der 1956 unter Pseudonym veröffentlichte „Gefährte Rebhuhn" und ein kleiner Auszug aus Odem (1957). Fast alle in Mein Nachbar, der König aufgenommenen Geschichten hat Schlattner sprachlich überarbeitet; Odem hingegen wird – wohl deshalb in einem eigenen Band – nach der Druckvorlage für das 1957 geplante Buch gedruckt, einem erhalten gebliebenen Typoskript; diese Erzählung ist nicht überarbeitbar und bleibt als Dokument stehen. (Die aufwändige, wie eine germanistische Übung wirkende Anlage der Edition sei hier nicht diskutiert.)
Die Qualität der Texte ist unterschiedlich. Odem ist von der Konstruktion her sehr anspruchsvoll – zu anspruchsvoll. Das Leben des früh der Tuberkulose erliegenden Proletarierkinds Gernot, das zum Dichter wird, wird auf zwei Ebenen erzählt: auf der einer auch schon stilisierten Biografie und auf der einer Wanderung zu den symbolisch zu verstehenden Höhen einer Winterlandschaft kurz vor seinem Tod. Alles bleibt sehr abstrakt; dieses traurige Leben könnte überall und nirgends gelebt worden sein. Die sprachliche Überhöhung von Gernots Schicksal misslingt dem jungen Autor, der auf Stilmittel zurückgreift, die in den dreißiger Jahren als modern gelten mochten, zumal in der fernen Provinz. Ein Beispiel: „ihre zögernden Worte, die auf flüsternden Schwingen aus der Stille gleiten und sinngeheim sein Bewusstsein berühren" (106); ein anderes, mit einem Gruß aus dem Expressionismus: „ballte er sein stürzendes Wesen zu letzter Entscheidung." (114)
„Gediegenes Erz" von 1956, damals mit einem Preis ausgezeichnet, wie Odem den thematischen Vorgaben des sozialistischen Realismus verpflichtet (und ebenfalls nicht überarbeitet), weist ähnliche stilistische Schlacken auf, etwa die Wahl einer unpassenden Stilebene (z. B. „Brodem", 81). Dennoch ist diese Erzählung unvergleichlich interessanter, wegen der Gestaltung mancher Figuren, noch mehr wegen der Verankerung in der konkreten Situation der Sachsen, die sich dem Nachkriegs-Rumänien anpassen müssen. Geschickt kontrastiert der Autor eindrucksvolle Bilder der Freudlosigkeit am Beginn mit dem sehr dynamisierten Ende, dem „Aufbruch" (89) eines Fests mit allen nationalen Gruppen des Orts. „Gediegenes Erz" ist eine Siebenbürgen-Geschichte, im Sinn der damaligen Politik und nach den Regeln des sozialistischen Realismus; wenn sie auch ein wenig historisch geworden ist, bietet sie doch Einblick in das damalige Selbstverständnis und die Überlebensstrategien der Sachsen. Hier wird aktuell jene Situation beschrieben, die, im Rückblick, Thema des Geköpften Hahns und des Klaviers im Nebel werden sollte.
Der Zugriff des Schlattner der großen Romane auf die Wirklichkeit seines Lands ist schon in der zweitältesten dieser wiedergefundenen Geschichten, „Gefährte Rebhuhn" (1956), da, der satirischen Charakterskizze eines überforderten rumänischen Funktionärs, gerade im Humor und im Sinn für das Groteske an der Gestalt, auch im Gespür für den Wandel Rumäniens unter dem neuen Regime. „Das Apfelbett" (1965) hält mit liebevoller Ironie die damals noch wichtigste Institution siebenbürgisch-sächsischen Lebens, das evangelische Pfarrhaus, in ihrer Würde und in ihren Schwächen fest – ein besonders sympathischer und persönlicher Text, entstanden übrigens vor Schlattners Entscheidung, Pfarrer zu werden. Der Streit zwischen dem Pfarrer und seiner Frau aus nichtiger Ursache und die Erzählung vom Entstehen seiner (dann doch nicht gehaltenen) Rachepredigt ist ganz auf dem Niveau der großen Romane.
Man muss Michaela Nowotnick dafür dankbar sein, dass sie Eginald Schlattner vom Sinn dieser Veröffentlichung überzeugt hat. Beide (grafisch ansprechenden) Bücher sind durch Angaben zur Entstehung der Texte, zur Überarbeitung von 2011 und durch Gespräche mit dem Autor ergänzt, die Einblicke in den Literaturbetrieb der deutschen Minderheit in Rumänien geben, auch durch die in einigen Dokumenten (z. B. Nachbar, S. 174) artikulierten marxistischen Forderungen an Literatur. Aus Südtiroler Sicht nicht uninteressant die Ablehnung des sächsischen Dialekts und sächsischen Sonderwortschatzes durch die Bukarester Lektoren. Beeindruckend bleibt der hier sichtbar gemachte weite und schwere Weg von den Konventionen der 50er Jahre (Odem) zum freien Erzählen Schlattners in den großen Romanen nach 1990 – das doch in einigen dieser frühen Geschichten schon angelegt ist.
Nicht zuletzt ist erfreulich, dass die beiden Bücher in Siebenbürgen erschienen sind, in einem jungen Verlag. Es ist zu hoffen, dass das der Verbreitung dieser „verlassenen Geschichten" außerhalb Rumäniens nicht im Weg stehen wird. Vor allem Mein Nachbar, der König verdient Leserinnen und Leser; diese Erzählungen befriedigen sowohl das Interesse an der Literatur einer fernen deutschen Minderheit als auch den Wunsch nach Lesevergnügen.

Sigurd Paul Scheichl

Erschienen u. d. T.: Verlassene Geschichten aus dem erzählerischen Frühwerk von Eginald Schlattner [Mein Nachbar der König; Odem – beide Hermannstadt 2012] in:
Kulturelemente (Bozen) Nr. 108. Mai 2013. 14f.

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