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Lebenserfahrungen einer sensiblen kritischen Zeitzeugin in Ost und West (III)

17. Dezember 2011

Von: Ingmar Brantsch

Zu Bettina Schullers Erzählungsband „Transsylvanien Spielplatz der Gedanken", Schiller Verlag Hermannstadt/Sibiu-Bonn 2010, 171 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-941 271-38-8

Bestürzt bis zum Geht-nicht-mehr rast sie zu ihren Eltern, um Rettung zu holen, zumal sie weiß, dass ihr Vater ein wohlhabender Rechtsanwalt ist. Sie hat auch diesmal instinktiv richtig reagiert. Ihrem Vater gelingt es – wie sie im Nachhinein annimmt mit Hilfe eines fürstlichen Bakschischs (Trinkgeld), das er sich durchaus leisten kann, die Pfändung abzubrechen und rückgängig zu machen. Fröhlich lachend bringen die Möbelschlepper alles wieder zurück auf seinen alten Platz.
Im allgemeinen Lob „die Jüngste hat die Lage gerettet", gesellt sich zum Stolz der Autorin das Unwohlsein, erfahren zu haben, dass, trotz des diesmal guten Ausgangs, es auch ganz anders hätte kommen können.

Ihre bis dahin heile Welt hinter den Wäldern „in trans-silvanien" (lateinisch hinter den Wäldern) – in Worte gefasst: „Es gab keinen Fernseher, kein Radio, kein Telefon. Es war wirklich eine heile Welt der Stille" - war durch das Brummen des Pfändungslastwagens und das Rumgeschreie der Möbelpacker für immer lärmend in Brüche gegangen.
Und nun macht Bettina Schuller, was sie oft macht in ihren Prosastücken. Sie springt von einem Geschehen assoziativ über Jahre und Jahrzehnte hinweg in ein anderes. Hier zur Katastrophe unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Rumänien von den Siegermächten dem Einflussbereich der Sowjetunion zugeschlagen wurde und die Familie der Erzählerin alle Zimmer abgeben musste bis auf ein einziges für vier Personen: die Eltern, die inzwischen 14-jährige Autorin und die 3-jährige Schwester.

Doch auch dies wurde bewältigt und später sogar auch noch die Ausreise nach Deutschland, die wieder Haus, Garten, fließendes Wasser in Bad und WC brachte. Im Ostblocksozialismus ein Traum, der nur allzu oft unerfüllt bleiben musste.
Was natürlich stimmt und doch wird hier Bettina Schuller etwas plakativ, denn ein direkter Vergleich auf Augenhöhe – den Westen mit dem Balkan vergleichen –, war auch vorher schon einseitig und nicht zu vergessen, auch die dramatische Pfändung fand im Zwischenkriegsrumänien statt und nicht im Nachkriegsrumänien, wo noch ganz andere Schrecknisse die deutsche Minderheit erwarteten in ihrer fast vollkommen rechtlosen Zeit von 1944 bis1948, als sie wieder wie alle anderen Bürger Rumäniens gleichberechtigt wurden. Gleichberechtigt in einer sich stabilisierenden Ostblockdiktatur.

Hier liegt der wunde Punkt, wie es Bettina Schuller schwarzhumorig in ihrem im Westen erschienenen Prosaband „Es muss wohl an der Freiheit liegen" (1989) gelingt, zu veranschaulichen. Es liegt wohl gerade nicht an der Freiheit, sondern an der jahrzehntelangen Sozialisation im Ostblocksozialismus der sogenannten Übergangszeit von der Diktatur des Proletariats zur Verwirklichung der Utopie der klassenlosen gesellschaftlichen Gleichberechtigung für absolut alle Bürger, ohne jede Ausnahme.

Besonders im Rumänien der Ceauşescu-Diktatur erlebte die Bevölkerung aber, wie man sich, statt der Utopie anzunähern, von ihr in immer weitere Ferne rückte. Die vollkommen enttäuschten und um ihr Leben betrogenen Bürger Rumäniens machten dann 1989 endgültig blutig schluss. Blutig wohl auch, weil in keinem anderen Ostblockland die Verarmung der Bevölkerung eine solche Dimension angenommen hatte, wie bei den Bürgern Rumäniens in der Diktatur des Ceauşescu-Clans.

Deshalb ist im Westen für Aussiedler das Problem in erster Linie die Sozialisation in eine ganz neue Lebenswelt in die Freiheit einer parlamentarischen Demokratie, die natürlich auch ihre nicht immer einfachen Spielregeln hat, die erlernt werden müssen. Hier im Westen kann man unter anderem im Zuge der Reisefreiheit – bei nötigem „Kleingeld" allerdings – Tourist in zahllosen Ländern und auf allen fünf Erdteilen sein.
Hier bringt Bettina Schuller das Freiheitsproblem des Spätaussiedlers auf den Punkt in der Prosa „Erinnerungen aus Kreta an Mangea Punar am Schwarzen Meer".

Der wunderbare Ferienaufenthalt auf Kreta ruft ihr wieder ihre glücklichen Ferien in der alten Heimat ins Gedächtnis und so ist sie nicht nur eine Touristin, sondern auch eine Erinnernde. „Ohne die Gegenwart dieser 10 Jahre wäre ich hier auf Kreta nichts als ein Tourist."
Schön! Bettina Schuller ist mehr als eine Touristin, auch eine Erinnernde.
Ist sie aber auch freier dadurch?!
Hier ist eine gefährliche Gratwanderung gefragt, denn wenn wir Gefangene der Erinnerung bleiben, riskieren wir auch ein Stück neuer Freiheit aufzugeben.
Der bayerische Klassiker Oskar Maria Graf (1894-1967) deutet an in seinem herzzerreißenden Buch „Wir sind Gefangene", dass man auch ein Gefangener der Kindheit sein kann, wie auch ein Gefangener unterschiedlichster Erinnerungen und Erfahrungen.

Man kann natürlich als Tourist auch ein Gefangener der Karibik sein oder auch Hinterpommerns. Es kommt nur darauf an, wie man damit umzugehen versteht und so kann es einen gleichermaßen gefangen halten wie auch freistellen in die selbsterwählte Beziehungspflege von weiterhin Unvergesslichem. Aber dies darf nicht zum Nachteil des Heutigen geschehen, sonst läuft man Gefahr, ein ewig Gestriger zu bleiben und den Anschluss zu verpassen.

In ihrer ergreifenden Wiedersehensprosa „Zu Besuch in Kronstadt" (nach der Diktatur), der Stadt ihrer Kindheit und der längsten Zeit ihrer Lehrertätigkeit sinniert Bettina Schuller, die Bundesbürgerin, dass sie ein freier Mensch in ihrer neuen Heimat Deutschland ist, weil sie auch unterlassen kann, was ihr nicht gefällt, während sie in ihrer alten Heimat im Osten zum Beispiel unter Strafandrohungen an Demonstrationen teilnehmen musste.
Freiheit wird von ihr hier als ein negativer Imperativ definiert, typisch – mit zwingender Logik gewissermaßen – für einen in Unfreiheit Sozialisierten, dem beinahe fast alles vorgeschrieben wurde.

Doch in ihrem letzten Text „Zum Schauen bestellt" springt Bettina Schuller gewissermaßen über ihren eigenen Restschatten aus der alten Heimat.
Sie erkennt im besternten Himmel, wie im Himmelsbogen in der Kuppel der Freiheit das „letzteinzige Bild hinaus ins Freie" mit Seelenfracht beladen ist.
Damit gibt sie letztlich doch wieder dem Deutschen Idealismus, dessen eine Aufgipfelung die Hegel'sche Philosophie ist, recht. Hier wird die Freiheit ganzheitlich aufgefasst sowohl als negativer Imperativ – frei von etwas -, aber auch als positiver Imperativ – frei zu etwas – und deshalb sollte jede wichtige Entscheidung auch Freiheit zu etwas beinhalten.
Bettina Schullers schwarzhumoriges Sprechen „Es muss wohl an der Freiheit liegen", kann so ganz im Sinne ihrer Überlegungen aus dem Gedankenspielplatz Transsylvaniens aufgefasst werden, es sollte an der Freiheit liegen, allerdings an der Freiheit im ganzheitlichen Sinn.

(ADZ am 17.12.2011)

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