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„Fahnenflüchtige" und Abenteurer

16. März 2012

Das Buch „Evangelisch in Altrumänien" dokumentiert Geschichte der Altreichgemeinden

Von: Holger Wermke

Hermannstadt - Für Eduard Hengstenberg war die Reise in die Donaufürstentümer ein Kulturschock und bei seiner Rückkehr nach Preußen zeichnete er ein wenig schmeichelhaftes Bild der dortigen Situation, auch über die dortige deutsche Bevölkerung. Die eine Hälfte wären aus Siebenbürgen ausgewanderte Sachsen, denen er Fleiß und Betriebsamkeit zusprach, gleichzeitig aber auch Gewinnsucht, Geiz und einen Mangel an Gemüt und Herzenswärme. Die anderen Deutschen wären überwiegend ruhelose Abenteurer, die keinen dauerhaften Erfolg verzeichneten und häufig der Trunksucht verfallen sind. Die meist in Städten angesiedelten evangelischen Gemeinden boten laut Hengstenberg „kein erfreuliches, nein, oft tiefe Wehmut erregendes Bild" dar.

Im Jahr 1857 begann die preußische Landeskirche, Kontakte zu den evangelischen Auslandsgemeinden in aller Welt zu knüpfen, so auch zu jenen im rumänischen Altreich. Die meist deutsch-evangelischen Gemeinden entstanden überwiegend ab Ende des 17. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Oben beschriebene Visitationen wiederholen sich, ebenso die negativen Urteile. Die Gemeinden waren wenig homogen, neben reichsdeutschen Staatsbürgern und Deutschen rumänischer Staatsangehörigkeit tummelten sich Schweizer, Holländer, Dänen, Norweger und Schweden. Die Fluktuation der Gemeindeglieder war hoch, und die Gottesgläubigkeit gering. Wohl auch deshalb unterstützte Preußen und später das Deutsche Reich die Gemeinden bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, schickte Wanderprediger oder unterstützte den Bau und Betrieb von Schulen.

Ein lebendiges Bild der von Forschung und Kirche eher vernachlässigten Altreichgemeinden zeichnen die Aufsätze und historischen Berichte, die die Herausgegeber des Kompendiums „Evangelisch im Altreich" zusammen getragen haben. Seit über 70 Jahren stand eine umfassende Darstellung der Geschichte der deutsch-evangelischen Gemeinden in Alt-Rumänien aus, schreiben Dr. Christa Stache, Leiterin des Evangelischen Zentralarchivs Berlin, und Dr. Wolfram Theilemann, ehemaliger Leiter des Zentralarchivs der evangelischen Kirche (ZAEKR) in Hermannstadt/Sibiu.

Unterstützt wurde die Herausgabe des Buches sowohl vom Bischof der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-evangelische Oberlausitz als auch von der evangelischen Kirche A.B. in Rumänien. „Allzu lange war unsere Geschichtsschreibung – auch die kirchengeschichtliche – auf Siebenbürgen beschränkt, obwohl wir offiziell seit 1926 eine evangelische (Landes-)Kirche A.B. in Rumänien sind", schreibt Altbischof D. Dr. Christoph Klein im Vorwort.

Das 645 Seiten starke Werk möchte die Forschung zu diesen Migrantengemeinden stimulieren. Die Mitarbeiter des ZAEKR leisteten zwischen 2004 und 2010 bedeutende Vorarbeit, indem sie Archivreste in Altrumänien sicherten und verloren geglaubte Dokumente wieder entdeckten. Diese Arbeit ist im archivwissenschaftlichen Teil anhand von Fallstudien zu Überlieferungsgeschichte und Erschließungsproblemen dokumentiert. Das ZAEKR bewahrt demnach derzeit elf Gemeindebestände auf. Dennoch existierten weitere Bestandsreste, die über ein Gebiet von 130.000 Quadratkilometer verstreut sind.

Der erste Teil widmet sich der historischen Entwicklung der Gemeinde. Die acht Aufsätze von bundes- und rumäniendeutschen Archivaren, Historikern und aktiven Pfarrern umfassen den Zeitraum von ca. 1830 bis in die heutige Zeit; sie bieten behördliche Überlieferungen (z.B. den Bericht von E. Hengstenberg von 1857), regionsbezogene Überblicksdarstellungen (evangelische Gemeinden in der Dobrudscha), lokale Fallstudien (die preußische Gemeinde in Atmagea bzw. die Gemeinde in Turnu-Severin) und eine biografische Studie („Auf den Spuren von Hans Petri").

Im dritten Teil bieten die Herausgeber eine aufschlussreiche Auswahl an Originaltexten aus Archiven und Privatnachlässen. Hier findet der Leser weitere Reiseberichte preußischer bzw. reichsdeutscher Visitatoren und Berichte von Pfarrern der Altreichgemeinden, natürlich aus der bis heute wichtigsten Gemeinde Bukarest, aber auch aus Jassy/Iaşi, Brăila, Konstanza/Constanţa oder Craiova.

Der umfangreiche Anhang bietet eine Übersichtskarte zur administrativen Gliederung der Evangelischen Kirchengemeinden in Altrumänien, Chronologien zur Geschichte von zehn Gemeinden und dem Reisepredigerbezirk Buzău. Im Mittelteil illustrieren historische und aktuelle Fotografien das Geschriebene.

Alles in allem ist es ein lesenswertes Buch über ein wenig bekanntes Thema, das nicht nur Historiker interessieren dürfte, sondern auch landesgeschichtlich interessierte Leser. Es bietet interessantente Statistiken und geschichtliche Fakten, beispielsweise das jahrhundertelange Desinteresse der evangelischen Kirche in Siebenbürgen an den Glaubensbrüdern im Altreich, besonders den sächsischen gegenüber („Fahnenflüchtige" laut Bischofsvikar Friedrich Teutsch, 1906).

Das Buch „Evangelisch in Altrumänien" (ISBN: 978-3941271708) gehört zur Reihe „Miscellanea ecclesiastica" und ist im Schiller-Verlag erschienen.
(ADZ 16.03.2012)

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