Erinnerungen in der Nacht von Bernd Wagner
... und Siebenbürgen ist weit
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Kategorie: Bücher
Seiten / Format: 300 S.; Broschiert
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: SUB-Verlag
Sprache: Deutsch
ISBN: 9783944175027
Berichte über die jüngere Geschichte Siebenbürgens fokus-
sieren sich meist auf die politischen Entwicklungen vor dem
2. Weltkrieg, auf den Krieg selbst oder auf die Deportation der Sie-
benbürger Sachsen nach Russland. Wie aber erging es den Men-
schen und ihren Familien in dieser Zeit zuhause in Siebenbürgen
oder in Deutschland? Welchen Anteil hatten sie am Geschehen? Wie
haben sie jene Zeit überlebt? Wie haben sie die in den Wirren des
Krieges oft zerrissenen Familien neu organisiert?
Über diese Fragen hat man meist wenig geredet. Die Dramatik
des Krieges und der Deportation überdeckte die "stillen" Seiten des
Lebens. Man war nach dem Krieg zu sehr damit beschäftigt, wieder
ein "normales" leben herbei zu führen und wollte durch solche Dis-
kussionen keine neuen Wunden aufreißen. Über diesen Bestrebun-
gen, sind die Menschen, die jene Zeit aktiv
erlebt haben, alt geworden und meist schon
abgetreten. Die Nachkriegsgeneration, der
die Mehrheit von uns ja angehört, lebt mit
dem Bewusstsein einer Vergangenheit in
Siebenbürgen, aber über das Leben der
Menschen, abseits von Krieg und Deportati-
on, weiß man nur wenig. Als junger Mensch
der Nachkriegsgeneration hat man sich zu
Zeiten als die Eltern noch jung genug waren,
um zu erzählen, nur wenig für Familienge-
schichte interessiert und war vielleicht auch
der Schilderungen der Kriegsereignisse
müde. Ihnen war nicht klar, dass sowohl das
Schweigen als auch die Schilderungen der
Kriegsereignisse Teil eines mühevollen und
oft auch schmerzvollen Verarbeitungspro-
zesses waren. Jetzt, wo der Abstand groß
genug ist, um die Geschehnisse objektiv zu
betrachten, sind die Eltern nicht mehr da,
können nicht mehr gefragt werden und
können nicht berichten. Das Buch von Bernd
Wagner leistet einen wichtigen Beitrag
dazu, diese Lücke zu schließen.
Wie viele Vertreter der Nachkriegsgene-
ration hat auch Bernd Wagner die Frage be-
schäftigt, welchen Anteil unsere Eltern am
Geschehen jener Zeit hatten: waren sie Opfer oder Täter oder Beides
zugleich. So schreibt er: "Mein Leben lang hat mich die Frage nach
den Ursachen, nach Schuld und auch Sühne, nach Verantwortlich-
keit für das Geschehen in jener Zeit um den 2. Weltkrieg begleitet,
verfolgt, belastet. Welche Schuld trugen meine Eltern? Ich liebte
meine Eltern und wollte sie nicht verlieren,...".
Beim Ordnen des Nachlasses seiner Mutter stößt er auf Briefe
und auf Notizen seiner Mutter, die diese in der Nacht aufgeschrieben
hat, wenn sie die Erinnerungen übermannten und nicht schlafen lie-
ßen. Er macht sich auf die Spurensuche. Er stößt dabei u.a. auf den
Briefwechsel seiner Tante Gertrud Schallner und den Fluchtbericht
von Dora Theil. Er sichtet und ordnet die Briefe und Notizen chrono-
logisch. Es gelingt ihm so exemplarisch die Schicksale dreier Media-
scher Familien, deren Wurzeln allesamt auf das Bindersche Alleehaus
in Mediasch zurückgehen, für die Jahre 1935 - 1955 nachzuzeich-
nen. Er selbst gibt dabei lediglich ein paar Einführungen und Über-
leitungen und ein paar Erläuterungen, wo es zum Verständnis erfor-
derlich ist und lässt ansonsten die Zeitzeugen selbst durch ihre
Briefe und Berichte sprechen. Das Buch wird dadurch sehr authen-
tisch und der Leser kann die Zeit plastisch miterleben.
Es sind dies die Schicksale der beiden Schwestern Hedwig (Zin-
zi) und Gertrud (Gert) Schallner und ihrer Cousine Dora Theil. Zinzi
(Jahrgang 1914) geht 1935 zum Studium nach Berlin. Sie heiratet
dort und gründet eine Familie. 1940 beginnen die Bombardierun-
gen. Um den Kriegswirren zu entgehen, verbringt Zinzis zweiter
Sohn Wolf, der erste Sohn starb nur wenige Tage nach der Geburt,
die Kriegszeiten bei den Großeltern in Siebenbürgen. Während ihr
Mann, Hem Wagner, zuerst als Sportfunktionär viel für die Wehrer-
tüchtigung unterwegs ist und sich später in englischer Kriegsgefan-
genschaft befindet, überlebt sie in Deutschland nur mit Mühe und
Glück mit ihrem dritten Sohn Bernd, dem Autor des vorliegenden
Buches, die Zeit der Bombardierungen. Am 23. August 1944 wech-
selt Rumänien die Front und damit sind alle Verbindungen nach Sie-
benbürgen abgeschnitten. Ihren Sohn Wolf sollte Zinzi erst 1956
wiedersehen, als er nach 14 Jahren in Rumänien nach Deutschland
zu seinen Eltern ausreisen kann. Gert die
jüngere Schwester, heiratet 1944 in Me-
diasch den deutschen Hauptmann Hans
Gerhard Bansen (Bans). Sie zieht mit ihm
nach Deutschland. Ihr erster Sohn wird als
Folge einer chaotischen Flucht aus Freiburg
tot geboren. Da Bans 1945 in russische
Kriegsgefangenschaft gerät, kommt es vor-
erst zu keiner weiteren Schwangerschaft. Es
folgen Jahre der Ungewissheit, ob Bans
noch am Leben ist. Er kommt 1955 nach 10
Jahren als einer der Letzten aus russischer
Kriegsgefangenschaft zurück. Er beginnt
mit 40 Jahren ein Ingenieur-Studium und
1956 kommt dann doch noch ihr gemeinsa-
mer Sohn Jörg zur Welt. Die dritte Protago-
nistin, Dora (Jahrgang 1924), ca. 10 Jahre
jünger als ihre beiden Cousinen erlebt den
Krieg in Mediasch. 1944 muss sie mit anse-
hen, wie die Rote Armee nach dem Seiten-
wechsel Rumäniens dort einmarschiert und
auch den Eckershof, das außerhalb von Me-
diasch gelegene Gut ihrer Familie, verwüs-
tet. Der Deportation der jungen Siebenbür-
ger Sachsen nach Russland im Januar 1945
entkommt sie nur knapp und lebt danach
drei Jahre lang mehr oder weniger im Unter-
grund. Im Oktober 1948 entschließt sie sich schließlich, gemeinsam
mit ihrer Cousine Jenny Schmidt, zur Flucht zu Fuß über Jugoslawien
nach Deutschland. Die Flucht durch Jugoslawien misslingt und sie
verbringen zweieinhalb Jahre in einem jugoslawischen Arbeitslager.
Als die Lager aufgelöst werden, ist eine Weiterreise nach Deutsch-
land mangels entsprechender Papiere nicht möglich. Mit viel Glück
gelingt es ihnen eine Einreiseerlaubnis nach Frankreich zu ergattern,
wo sie ein weiteres Jahr verbringen und sich mit allerhand Gelegen-
heitsjobs durchschlagen. Während Jenny in Frankreich bleibt, ge-
lingt Dora schließlich nach einer fast siebenjährigen Flucht die Ein-
reise nach Deutschland. Sie wohnt in den ersten Jahren bei ihrer
Cousine Zinzi, so dass die drei Geschichten hier wieder zusammen-
laufen.
Eine Chronologie am Ende des Buches erleichtert die zeitliche und räumliche Orientierung.
Allen denen, die sich für diesen Zeitabschnitt unserer Geschich-
te interessieren und die es vielleicht auch versäumt oder sich nicht
getraut haben mit ihren Eltern und Verwandten über jene Zeit zu re-
den, sei dieses sehr persönliche Buch dringend empfohlen.
Johannes Hager
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