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All die ungelebten Leben von Michaela Abresch
Roman

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Kategorie: Bücher
Seiten / Format: 496 S
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Acabus
Sprache: Deutsch
ISBN: 9783862827336
Auflage / Bände: Originalausgabe

Mascha»Herzlich willkommen!« Jane stieß sich leicht von der Wand ab. Es war, als schwebe sie zu Mascha herüber. Sie strahlte immer noch. Maschas Mund fühlte sich staubtrocken an. Ihr Herzschlag dröhnte bis in die Schläfen. Wohin war die Vorfreude entschwunden, die sie während der ganzen Fahrt vonFürstenried bis hierher verspürt hatte? Warum kam ihr das tausendmal in ihrer Vorstellung ausgesprochene Wie ich mich freue, dich zu sehen! nicht über die Lippen? Es war, als habe ihr jemand eine Spritze verabreicht, die jede Form von Bewegung und Regung einfror, sogar jedes Wort, das sie hatte aussprechen wollen. Sie ist krank.Jane stand jetzt so nah vor ihr, dass Mascha nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren. Sie waren fast gleich groß, aber aus der Nähe wirkte Jane noch zarter. Hohlwangig, mager. Wie ein Kind, das man in die Arme nehmen und nicht mehr loslassen wollte. Das Strahlen in Janes Augen verflüchtigte sich. »Du konntest damit nicht rechnen«, sagte sie jetzt. Ihre Stimme klang vertraut in Maschas Ohren. »Es tut mir leid, wenn dich mein Anblick erschreckt.« Beschämt senkte Mascha den Kopf. O nein, Jane, bitte sag das nicht! Ihre Arme hoben sich, ohne dass sie etwas dafür tun musste. Ihre Füße machten einen kleinen Schritt. Ihre Hände legten sich sanft auf Janes Schultern, die sich knochig anfühlten unter dem Pulli, wie zwei Stücke Holz. Sie spürte Janes Arme, als sie ihren dürren Körper an sich zog, und den glatten Stoff des Kopftuchsunter ihrem Kinn. Keine von ihnen sagte etwas, sie standen nur da, dicht beieinander, und hielten sich in den Armen. Durch die geöffnete Verandatür drang das Tschilpen der Vögel zu ihnen herein. Maschas Blick fiel auf den Tisch draußen auf der Veranda. In ihrer Vorstellung sah sie ihn bedeckt mit Muscheln, die zum Trocknen in der Sonne ausgelegt worden waren, hübsche kleine Gitterschnecken, Purpurschnecken, so groß wie ein 50-Oere-Stück, Stabmuscheln ohne Zahl, die vielfarbigen Mondschnecken, Pelikanfüße, die so selten zu finden waren, dass sie jedes Mal ein Fest gefeiert hatten, wenn eine von ihnen einen nach der Flut angeschwemmt im Sand entdeckt hatte. Es ist wie früher, dachte sie, und dann trat Miquel in ihre Gedanken, ohne dass sie ihn gerufen hatte. Barfuß, in Jeans und mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, so wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. In seinem Blick lag diese Art von Ermutigung, mit der er jeden Ansatz eines Zweifels ersticken konnte. »Zeichne, was du fühlst«, hörte sie seine Stimme, und die Sehnsucht, die keine Daseinsberechtigung haben durfte, grub sich tief in ihr Herz. Zur gleichen Zeit hoben sie die Köpfe. »Komm«, sagte Jane, nahm Maschas Hand und zog sie mit sich nach draußen. Sie setzten sich einander gegenüber an den Muscheltisch. Mascha hängte ihren Rucksack an die Stuhllehne. Eine Weile sahen sie sich an.»Krebs«, sagte Jane. Sie zupfte an einem feinen Faden, der sich vom Saum ihresÄrmels gelöst hatte.»Seit wann?« Mascha räusperte sich. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht, dass dies die ersten Worte sein könnten, die sie an ihre Schwester richten würde.»Erstdiagnose vor fünf Jahren. Das Rezidiv kam vor zwei Jahren, die Metastasen in der Lunge auch. Kurz danach Knochenbefall. Drei Wirbelkörper. Außerdem sammelt sich Flüssigkeit zwischen Lunge und Rippenfell.«Noch während Jane wie ein routinierter Mediziner all die Bösartigkeiten benannte, schlug Mascha eine Hand vors Gesicht. Nur die Augen blieben frei, und sie schloss die Lider, weil es darunter zu brennen begann. Warum sie die Tränen zu unterdrücken versuchte, wusste sie nicht. Vielleicht wegen der Beherrschtheit, mit der Jane über die heimtückischen Baustellen in ihrem Körper sprach und die Mascha deshalb nicht mit der Schwere der Erkrankung in Einklang bringen konnte. Vielleicht wolltesie ebenso stark sein, wie Jane es zu sein schien. »Mein Gott, Jane ...«, stotterte sie. Sie schlug die Augen auf, die feucht waren und Jane hinter einem Tränenschleier verschwimmen ließen. »Warum"Als Kind war ich davonüberzeugt, von uns dreien die unwichtigste, die nutzloseste, die wertloseste Tochter zu sein. Warum sonst durftet ihr bleiben, während er mich fortgab?"Janes Krankheit zwingt sie dazu, ihre Arbeit für ein humanitäres Hilfsprojekt im Südsudan zu beenden. Die Angst davor, nach ihrem Tod in Vergessenheit zu geraten, weckt in ihr den Wunsch, nach zwanzig Jahren des Schweigens Kontakt zu ihren beiden Schwestern aufzunehmen. Sie lädt sie nach Rømø ein, auf die dänische Insel, wo sie als Kinder unbeschwerte Ferien verbrachten. Notdürftig knüpfen die Schwestern das einst zerrissene Band zusammen, um Antworten auf Fragen zu finden, die in der Familie nie gestellt werden durften. Die eigenwillige Selma vermeidet alles, was alte Wunden aufreißen könnte. Mascha sieht sich unvorbereitet mit einer Schuld konfrontiert, die sie zutiefst erschüttert. Und Janes Zustand verschlechtert sich Tag für Tag.Michaela Abresch erzählt die berührende Geschichte einer Familie, die geübt darin ist, den Mantel des Schweigens über störende Risse im Familiengefüge zu breiten - ohne zu merken, dass die verschwiegenen Wahrheiten sie alle an einem erfüllten Leben hindern.2DEMichaela Abresch, 1965 im Westerwald geboren. Verheiratet, zwei erwachsene Söhne, tätig in der pflegerischen Beratung einer Einrichtung der Behindertenhilfe. Mag Bücher, Reisen, Bergwandern, Menschen, den Wald, den Herbst, Chai, Marzipan, Lavendelfelder. Und die dänische Insel Rømø, wo in einem kleinen Haus in den Dünen etliche Kapitel ihres neuen Romans entstanden sind und sich die Lebensfäden ihrer Protagonisten kreuzen.Neben Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien folgende Veröffentlichungen im acabus Verlag:2012 Das Mirakelbuch2013 Ostrakon - Die Scherbenhüterin2015 Meermädchen und Sternensegler2017 Kalt ruht die Nacht2020 All die ungelebten Leben

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