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Gefühlte Opfer

Gefühlte Opfer von Ulrike Jureit, Christian Schneider
Illusionen der Vergangenheitsbewältigung

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Kategorie: Bücher
Seiten / Format: 253 S
Erscheinungsjahr: 2010
Verlag: Klett-Cotta
Sprache: Deutsch
ISBN: 9783608946499
Auflage / Bände: 2. Ausg.

ULRIKE JUREIT UND CHRISTIAN SCHNEIDER Unbehagen mit der Erinnerung<br>ULRIKE JUREIT Opferidentifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im erinnerungspolitischen Rampenlicht<br>I. Erinnerung wird zum Gesellschaftszustand: Eine Beobachtung<br>Olympioniken der Betroffenheit: Ein Unbehagen . . Geliehene Identitäten: Die Figur des »gefühlten Opfers«<br>Everything is under Control: Normierungstendenzen einer opferidentifizierten Erinnerungskultur<br>II. Erinnerung und Erlösung: Ein Missverständnis<br>Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung: Eine Inanspruchnahme<br>Formen säkularen Erinnerns: Zwischen Abstinenz, Imitation und Irritation<br>III. Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses: Eine Kritik<br>Erinnerungen im Wechselrahmen<br>Assmann&Assmann: Erinnerung als kulturelle Arterhaltung<br>Wir-Gefühle am Abgrund<br>IV. Reichweiten des Erinnerns: Eine Perspektive<br>Sehnsucht nach dem Neuanfang: Generation und Gedächtnis<br>Global denken - global erinnern? Opferidentifikation als europäisches Gemeinschaftsversprechen<br>Wem gehört der Holocaust? Deutungskonflikte in der Weltgesellschaft<br>CHRISTIAN SCHNEIDER Besichtigung eines ideologisierten Affekts: Trauer als zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik<br>V . Grundlagen der Vergangenheitspolitik<br>1966. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik<br>Die Sprecherposition der»Kritischen Theorie« nach 1945<br>1968. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse<br>1967. Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern<br>VI . Sigmund Freud: Trauer und Melancholie<br>VII. Trauer und Geschichte. Formen der Erinnerung<br>Norbert Elias: Jeder trauert um seine Toten<br>Kollektive Fehlleistungen<br>VIII. Noch einmal Trauer: Modelle einer anderen Affektkultur<br>Trauer als»Selbstreflexion im verlorenen Anderen«<br>Auf dem Weg zu einer neuen Erinnerungskultur?<br>Anmerkungen

ULRIKE JUREIT UND CHRISTIAN SCHNEIDER<br>Unbehagen mit der Erinnerung<br>"Nach Auschwitz ist alle Kultur Müll", lautet ein berühmtes Diktum der deutschen Nachkriegsgeschichte. Theodor W. Adorno verband sein brachiales Urteil mit einem pädagogischen Auftrag: Alles sei dafür zu tun, »daß Auschwitz nicht sich wiederhole«.<br>Seit dieser Zeit prägt das Schreckenswort Auschwitz die Selbstverständigungsdebatten der Deutschen. Und in dessen Schatten haben sich ihre Geschichtsbilder und ihr Geschichtsbewusstsein entwickelt. Die deutsche Vergangenheitsbeschäftigung steht seit jeher unter dem Zeichen einer Wiederholungsphobie: der Angst, dieVergangenheit könne wiederkehren, das abgründig Destruktive der Geschichte wieder gegenwärtig werden. Diese Furcht dominiert nicht nur das Lebensgefühl der nachwachsenden Generation, sie bestimmt auch bis heute Formen und Muster unseres historischen Erinnerns.<br>Norbert Elias beschrieb 1977 die damalige politische Situation in Deutschland als eine Spirale der Selbstzerstörung. Die bundesdeutsche Gesellschaft laufe angesichts terroristischer Anschläge und staatlicher Gewalt zunehmend Gefahr, »in eine Eskalation der Furcht verwickelt zu werden, in eine polarisierende Eskalation der Konflikte zwischen denen, die die Errichtung einer kommunistischen Diktatur, und denen, die das Wiederkommen einer faschistischen Diktatur in Westdeutschland befürchten«. 1 Diese gesellschaftliche Spaltung, die ihren destruktivsten Ausdruck im Terrorismus der RAF fand, führte Elias auf eine ausgebliebene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit zurück, durch diedie Bundesrepublik in eine tiefe und zudem generationell strukturierte Identitätskrise geraten sei. Während ein erheblicher Teil derjenigen, die den Nationalsozialismus noch selbst erlebt hatten, so täte, als wenn nichts geschehen sei, hätten sich vor allem nachwachsende Jahrgänge vom politischen System der Bundesrepublik abgewandt und im Marxismus das Gegenmodell zum vermeintlich autoritären Staat gesucht. »Für das Identitätsbewußtsein dieser jüngeren Generationen als Deutsche«, so hielt Elias fest, »wurde die offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dringlicher. Dadurch,daß man ihnen dabei nicht half, daß die offizielle Politik weitgehend dahin ging, die offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu vermeiden, trug man nicht nur dazu bei, die gefährliche Hinterlassenschaft Hitlers aus dem Bewußtsein der westdeutschen Bevölkerung zu verbannen, man drängtedadurch besonders auch die intellektuell wacheren jungen Menschen dazu, ihre Identität im Marxismus zu suchen, dem einzigen Gedankengebäude, das ihnen eine Erklärung des Faschismus bereitstellte und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit gab zu fühlen , sie hätten mit dieser Vergangenheit nichtszu tun, sie seien frei von jederSchuld.«<br>Elias markierte damit den gesellschaftlichen Wandel in den 1960er und 1970er Jahren als einen Umbruchs- und Transformationsprozess, den er eng an die generationelle Auseinandersetzung und Weitergabe der nationalsozialistischen Vergangenheit gebunden sah. Dieser gesellschaftliche Konflikt mündete zwei Jahrzehnte nach der Staatsgründung nicht nur in eine soziale, ökonomische und politische Neuerfindung der Bundesrepublik, er brachte auch nachhaltige und für die damalige generationelle Konfliktlage signifikante Muster der Vergangenheitsdeutung und Aufarbeitung hervor. Hierbei sei entscheidend, so Elias, dass jüngere Jahrgänge aufgrund der unverstandenen Vergangenheit dem eigenen politischen System entfremdet blieben und mit dem Marxismus die Hoffnung verbanden, dem Gefühl des Makels und der Schuldgefühle, die der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, entkommen zu können. Im Ergebnis weist Elias daher darauf hin, »daß das nationalsozialistische Problem nicht ein Problem der Vergangenheit ist; es hat nie aufgehört, ein aktuelles Problem zu sein«.<br>Diese Aktualität bestätigte sich 1985 erneut, als Bundespräsi<p>Seit Jahrzehnten empfinden sich die Deutschen als gefühlte Opfer und vertrauen seit der Rede Richard von Weizsäckers 1985 dem Versprechen, Erinnerung führe zu »Erlösung«. Diese Erinnerungsmoral untersuchen Ulrike Jureit und Christian Schneider historisch, geistesgeschichtlich und psychoanalytisch. Ihr Fazit: Eine vollkommene »Vergangenheitsbewältigung» bleibt eine Illusion.<br>

2DE

Ulrike Jureit, Dr. phil., Historikerin, Hamburger Institut für Sozialforschung, Sprecherin der zweiten Wehrmachtsausstellung.

Christian Schneider, geboren 1951, Dr. phil. habil., Privat dozent an der Universität Kassel; zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich psychoanalytischer Kulturtheorie.

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